In Luxemburg und Südbelgien bieten die Medien Extremist:innen kein Forum – und konnten einen Rechtsruck damit bislang verhindern. Ganz anders in Deutschland. Plädoyer für ein Umdenken.
Chassepierre ist ein kleiner Ort in der belgischen Region Wallonien, an der Grenze zu Frankreich. Die Champagne ist nur fünf Minuten entfernt. Man kennt sich – spricht französisch, macht zusammen Sport, geht vielleicht zur gleichen Bäckerei. Auf den ersten Blick trennt die Menschen wenig. Doch: Die Einen stimmen für eine rechtsextreme, die Anderen für eine sozialdemokratische Partei. Warum? Wegen der Medienberichterstattung, sagt die Politologin Léonie de Jonge. Dazu später mehr.
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Während sich das Publikum in True-Crime-Manier aus sicherer Distanz gruselt, empören sich Teile der Medienwelt – kurz zumindest. Wird die Partei durch solche Auftritte aufgewertet, verharmlost und normalisiert? Oder ist es gerade mutig, sich der Bedrohung zu stellen, statt sie zu stigmatisieren und ignorieren? Kritik wird totgeschlagen mit immer gleichen Argumenten wie „Wir müssen die Vielfalt und politische Chancengleichheit wahren“ (Öffentlich-Rechtliche) und „Wir müssen ja mit allen reden“ (Stern). Müssen wir? Nur weil eine Partei demokratisch gewählt ist, heißt das nicht, dass sie demokratische Inhalte vertritt. „Nein, so sollten wir Medien nicht mit der AfD umgehen“, kritisierte etwa die Spiegel-Redakteurin Ann-Katrin Müller besagtes Stern-Interview. „Sie ist keine normale Partei, sondern eine, die in großen Teilen rechtsextrem ist. Sie will die Demokratie maßgeblich verändern, da haben nicht nur Parteien und Zivilgesellschaft eine Verantwortung, sondern auch wir Medien.“
Social Media mitdenken
Diese Verantwortung schlägt sich nieder in Form und Wirkung. Form, weil Redaktionen frei entscheiden können, mit wem sie ein Gespräch führen und wie sie dieses anschließend für die Öffentlichkeit aufbereiten, und Wirkung, weil Massenmedien in Wechselwirkung stehen mit anderen Kanälen. Ein Interview, das clever aufgebaut ist und so die menschenfeindlichen Ideologien der Funktionär:innen, die inhaltliche Inkompetenz der Partei oder Lügen (Wissenschaftsfeindlichkeit) entblößt, ist dann nicht mehr viel Wert, wenn keine:r weiß, ob – und vor allem wie – diese Formate AfD-Sympathisant:innen erreichen.
Auf Social Media schrumpfen die Diskussionen auf eine Schlagzeile zusammen. Was bei den Menschen hängen bleibt: AfD-Klimaleugner darf mit Klimaforscher diskutieren, wie etwa bei Markus Lanz im Mai 2023, als Steffen Kotré auf Mojib Latif traf. Das ist eine Form von Legitimierung, die nur Massenmedien als traditionelle Schleusenwärter von relevanten Informationen leisten können. Die Sozialpsychologin Pia Lamberty erinnerte Anfang August 2023 im Medienpodcast Quoted daran: Menschen lesen oder schauen Beiträge nicht mehr von Anfang bis Ende. „Wir sehen Headlines und Teaser auf Social Media und glauben, informierter zu sein als vorher.“ Und: „Was wir immer wieder hören, glauben wir irgendwann.“ Selbst wenn es faktisch oder moralisch falsch ist.
Redaktionen befeuern diesen Mechanismus mit „False Balance“, wenn sie etwa den Konsens von 99 Prozent der Virolog:innen oder Klimaforscher:innen wiederholt der 1-Prozent-Meinung gegenüberstellen oder rechtsextreme Ansichten von Minderheiten zu Wort kommen lassen. Sichtbarkeit normalisiert. Journalist:innen überschätzen sich maßlos, wenn sie glauben, die „False Balance“ im Gespräch ausbalancieren zu können. Reicht Common Sense nicht, hilft vielleicht ein Blick ins Landesmediengesetz: Rundfunkprogramme haben nicht nur die Meinungsvielfalt, sondern die Würde des Menschen und die demokratische Grundordnung zu achten.
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Angefangen hat die Diskursverschiebung laut Populismus-Forscherin Paula Diehl 2010 mit Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab. 2018 trug Alice Weidel seinen Begriff „Kopftuchmädchen“ ins Herz unserer Demokratie, ins Parlament. Und im Oktober 2023 bezog sich CDU-Chef Friedrich Merz im ZDF auf Sarrazin, als es um die Gefahren des politischen Islams ging. Im gleichen Monat zeigte der Spiegel einen grimmigen Olaf Scholz auf seinem Cover mit dem Zitat: „Wir müssen endlich in großem Stil abschieben.“ AfD-Rhetorik ist auch in Medienberichten präsent, in denen es nicht um sie geht. Etwa wurden populistische Begriffe wie „Flüchtlingsstrom“, „Überfremdung“ und „Altparteien“ 2015/16 zuerst zitiert, doch irgendwann ohne Anführungszeichen übernommen. Alles beabsichtigt. Der damalige AfD-Parteivorsitzende Alexander Gauland sagte 2018 in einem FAZ-Interview, dass AfDler:innen „in der Tat versuchen, die Grenzen des Sagbaren auszuweiten“.
Ein Blick ins Ausland zeigt: Es geht auch anders. Medienschaffende können sich durchaus als Hüter:innen dieser Grenzen verstehen – und den Rechtsruck damit verhindern. Untersucht hat das die Politikwissenschaftlerin Léonie de Jonge in ihrem 2021 veröffentlichten Buch The Success and Failure of Right-Wing Populist Parties in the Benelux Countries. Dass es Rechtspopulist:innen bislang nicht in die Parlamente Walloniens und Luxemburgs geschafft haben, in Flandern dagegen zweitstärkste und in den Niederlanden stärkste Kraft sind, liegt de Jonge zufolge nicht etwa daran, dass die Menschen dort finanziell abgesicherter, gebildeter oder weniger rassistisch wären.
Tatsächlich war die Arbeitslosenrate 2020 in Wallonien doppelt so hoch wie in Flandern; die Einstellungen gegenüber Immigrant:innen unterscheiden sich kaum, so auch das Vertrauen in die Demokratie und politische Institutionen. Der Erfolg radikal rechter Parteien liegt, nach de Jonges Analyse, hauptsächlich daran, wie offen die Gatekeeper einer Demokratie mit ihnen umgehen. Demnach tragen die Medien und etablierten Parteien in Frankreich eine erhebliche Mitschuld am Aufstieg des Front National und in den Niederlanden an Wilders’ PVV.
Zusammen gegen Rechtsaußen
In Wallonien dagegen haben schon in den 1990er-Jahren alle Rundfunkanstalten einen Pakt geschlossen, den „cordon sanitaire médiatique“: Menschen, die rassistischen, demokratiefeindlichen Gruppen nahestehen, bekommen keine Plattform; Einladungen zu Live-Interviews und Talkshows sind tabu. Nach rechtlichen Streitigkeiten urteilte der Belgische Staatsrat 1999: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk habe das Recht, undemokratischen Parteien den Zugang zu verwehren. Auch kommerzielle Sender und die meisten Printmedien in Wallonien halten die Prinzipien hoch. Das heißt nicht, dass wallonische Journalist:innen nie mit Rechtsextremen reden. Es heißt, dass sie nur dann zitiert werden, wenn die Zitate kontextualisiert werden und antidemokratische Inhalte als solche einordbar sind. Reden von rechtsradikalen Politiker:innen etwa werden nicht direkt übertragen, sondern von Reporter:innen zusammengefasst. In der Luxemburger Presse besteht zwar keine formelle Absprache, wohl aber ein informeller Konsens gegen das Abbilden rassistischer und übertrieben nationalistischer Stimmen.
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Die Stoßrichtung der Berichterstattung muss sich ändern. Erstens: Mehr inhaltliche Schärfe. Was bedeuten die Vorhaben der AfD konkret für den Alltag ihrer Wähler:innen? Denn diese wären die Hauptleidtragenden des Parteiprogramms, wie zuletzt eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung vom August 2023 zeigte. Obwohl die AfD eine äußerst neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik verfolgt – etwa Bürgergeld und Mindestlohn kürzen will –, wählen sie überdurchschnittlich viele Arbeiter:innen und Arbeitslose.
Zweitens: Mehr rote Linien und wallonische Weitsicht. Antidemokrat:innen haben kein Recht auf Sendezeit. Da tut sich was. 2022 tauchten AfDler:innen nur zweimal in fünf verschiedenen Talkshows auf, zeigt eine Erhebung des Branchendienstes Meedia. 2018/19 dagegen nahm Alexander Gauland selbst dann noch im ZDF-Sommerinterview und verschiedenen Talkrunden Platz, nachdem er „Hitler und die Nazis“ als „Vogelschiss“ in der Geschichte Deutschlands bezeichnet hatte. Nur eine Redaktion, hart aber fair, erteilte ihm Hausverbot. Die Begründung: „Wer die Verbrechen des Nationalsozialismus relativiert, kann kein Gast bei uns sein.“
Am Ende besteht eine Demokratie eben nicht nur aus politischen Vertreter:innen und Meinungen, sondern aus Werten und Menschenrechten, auf die wir uns als Gesellschaft geeinigt haben. Das, sagten viele US-Journalist:innen nach Donald Trumps Wahlsieg, hätten sie viel zu spät realisiert.